Reiseprojekt Jugendhilfe mal anders

400 Kilometer zu Fuß – mit zwei Hunden, einem selbstgebauten Wagen und einer Jugendlichen, die schon viel zu oft gehört hatte, dass sie „zu schwierig“ sei. Was für viele verrückt klingt, war für mich der Anfang eines Weges, der mein Verständnis von Pädagogik tief verändert hat. Ich habe mich damals bewusst für diesen unkonventionellen Rahmen entschieden, weil ich überzeugt war: Beziehung entsteht nicht im Büro. Sie entsteht im Tun, im Aushalten, im gemeinsamen Gehen – im wahrsten Sinne des Wortes.

Warum klassische Strukturen oft scheitern

Viele junge Menschen, die ich begleite, haben sich längst zurückgezogen. Sie trauen Erwachsenen nicht mehr, vertrauen keinen Strukturen und fühlen sich durch Regeln eher kontrolliert als gehalten. In klassischen Settings wie Wohngruppen oder Schulen greifen oft dieselben Muster: Sanktionen, Machtkämpfe, Rückzug. Was fehlt, ist Raum – im Innen wie im Außen.

In der intensiven pädagogischen Arbeit unterwegs habe ich erlebt, wie sich durch das einfache Gehen etwas löst. Nicht sofort. Aber mit jedem Schritt wird Druck abgebaut, Kontrolle relativiert. Gespräche entstehen beiläufig. Vertrauen wächst – nicht durch Worte, sondern durch Erfahrung.

Beziehung beginnt mit echter Präsenz

Ein Reiseprojekt ist keine Maßnahme, in der man von außen „repariert“. Es ist eine Einladung zur Beziehung – und die beginnt damit, dass man selbst bereit ist, sich zu zeigen. Nicht als perfekte Fachkraft, sondern als Mensch mit Haltung.

Ich erinnere mich an einen Abend, an dem es geregnet hat, wir durchnässt waren und der Zeltaufbau ewig dauerte. Ich war müde. Die Jugendliche auch. In diesem Moment war klar: Jetzt zählt nicht mein pädagogisches Konzept. Jetzt zählt, dass ich mit ihr friere, dass ich mit ihr fluche – und dass ich bleibe. Dieses „Ich bleibe“ ist oft der stärkste heilende Faktor.

Natur als Resonanzraum

Die Natur war während des gesamten Projekts mehr als Kulisse. Sie war Spiegel, Ruhepol, manchmal auch Herausforderung. Sie bietet kein WLAN, kein Rückzugszimmer, keine Tür, die man knallen kann. Dafür bietet sie Weite, Klarheit und einen Rhythmus, der heilt.

Die Erfahrung, durch Wälder zu laufen, am Fluss zu sitzen, bei Regen weiterzugehen – sie verändert etwas. Bei mir. Und bei den jungen Menschen, die oft das erste Mal erleben, dass es auch ohne Ablenkung geht. Dass man aushalten kann. Und dass man auch ohne festes Dach über dem Kopf Sicherheit erleben kann – durch Beziehung.

Haltung statt Methode

In Fortbildungen und Fachdiskussionen wird oft gefragt: Was ist das Konzept hinter solchen Reiseprojekten? Welche Methoden nutzt du? Die Antwort ist einfach – und zugleich herausfordernd: Ich arbeite nicht vorrangig mit Methoden. Ich arbeite mit meiner Persönlichkeit und meiner Haltung.

Meine Haltung ist: Ich sehe den Menschen vor mir, nicht das Verhalten. Ich setze auf Verbindung, nicht auf Kontrolle. Ich bin bereit, Fehler zu machen, aber ich bin auch bereit, Verantwortung zu übernehmen – für mich, meine Grenzen und die Beziehung, die ich gestalte.

Vertrauen entsteht durch Konsequenz, nicht durch Strafe

Einer der größten Irrtümer in der Jugendhilfe ist, dass Konsequenz mit Strafe gleichgesetzt wird. In meinem Projekt war Konsequenz etwas anderes: früh aufstehen, auch wenn man keine Lust hat. Weitergehen, auch wenn es anstrengend ist. Gemeinsam essen, aufräumen, Rücksicht nehmen. Nicht, weil man muss – sondern weil man Teil von etwas ist.

Vertrauen entsteht, wenn junge Menschen erleben, dass jemand nicht gleich abbricht, wenn es schwierig wird. Dass jemand bleibt, auch wenn sie provozieren. Dass jemand sagt, was Sache ist – aber nicht mit dem Finger, sondern mit dem Herzen.

Was ich gelernt habe

Ich habe gelernt, dass man mit ganz einfachen Mitteln – ein paar Hunden, einem Wagen, einem Zelt – ein tragfähiges System schaffen kann. Nicht durch Regeln, sondern durch Beziehung. Nicht durch Kontrolle, sondern durch echte Präsenz.

Ich habe gesehen, wie eine Jugendliche, die zuvor als „nicht tragbar“ galt, Verantwortung übernommen hat. Wie sie Grenzen neu kennengelernt hat – nicht als Einschränkung, sondern als Rahmen, der schützt. Wie sie lachen konnte. Weinen konnte. Und wieder Vertrauen gefunden hat – in sich, in andere, ins Leben.

Für wen dieser Weg möglich ist

Solche Projekte sind nicht für jeden jungen Menschen geeignet. Sie brauchen Bereitschaft – und Fachkräfte, die mit Klarheit, Struktur und Herz begleiten. Aber sie bieten ungeahnte Chancen: für intensive Entwicklung, für persönliche Wendepunkte und für echte Bindung.

Ich wünsche mir, dass mehr Träger, mehr Fachkräfte und mehr junge Menschen den Mut haben, neue Wege zu gehen. Nicht, weil sie trendy sind – sondern weil sie wirken.

Denn manchmal beginnt Entwicklung nicht mit einem Therapieplan, sondern mit dem ersten Schritt auf einem langen Weg. 😉